Amazonen

Ich sitze in einem Café, ermüdet von der Reizüberflutung der Stadt, suche meditative Ruhe in den warmen Dämpfen meines Latte Macchiatos. Aber auch hier hängt ein riesiger Bildschirm an der Wand, die Nachrichten laufen. Die unnötigen Worte eines AFD-Politikers rattern ungewollt durch meinen Kopf, ich erfahre, welche Mannschaft ein wichtiges Fußballspiel gewonnen hat und was Donald Doof wohl wieder angestellt hat, und als ich gerade meine Kopfhörer in die Ohren stecken möchte, wird es augenblicklich still im Café. Die hitzigen Diskussionen, Kommentare, das Lachen und die Alltagsgespräche brechen abrupt ab, als hätte jemand auf die Pausetaste gedrückt. Selbst die Siebträgermaschine gibt keinen Muchs, hat ihr dunkles Brummen und Dampfen unterbrochen. Die Nachrichten erscheinen lauter als zuvor. Ich höre: 15 Männer. Vergewaltigten ein junges Mädchen, 14 Jahre alt war sie. Elf identifizierbare Spuren wurden gesichert, drei fehlten. Ort, Datum, Uhrzeit. Mehr Fakten erfahren wir nicht, nur empörte Kommentare und Mitleidsbekundungen, Versprechungen, die man schon oft gehört hat. Es dröhnt aus einer Ecke des Cafés: „Kommt davon, wenn man alle Migranten reinlässt.“ Kein Widerspruch. Dann poltert eine junge Frau, vielleicht um die 20, an meinen Tisch, wirft den Rucksack auf die Sitzbank und lässt sich mir gegenüber auf das Polster fallen. „Unglaublich, oder?“, spricht sie mich direkt an, ihre Wangen glühen und ihre Augen taxieren mich, werfen Leerstellen in die Luft, die niemand füllen kann. „Ich wette diese perversen Säcke bekommen nur ein oder zwei Jahre. Falls die überhaupt verurteilt werden. So läuft das doch immer. Die Frauen werden zerstört, ihr ganzes Leben. Und die können einfach weitermachen. Ist das Genugtuung für die Opfer? Sollen wir uns so etwa sicher fühlen?“

„Das ist verdammt unfair.“, antworte ich und meine es auch so. Jetzt schiebt sie hinterher: „Ich darf mich doch zu dir setzen, oder?“ Ich bejahe, denn das Café ist brechend voll und mit der meditativen Ruhe wird es nichts mehr.

Sie bestellt sich immer noch dampfend vor Wut einen Milchkaffee, die anderen Leute haben die Schreckstarre mittlerweile überstanden und sind wieder hitzig am Diskutieren: Wahlkampf, Impfpflicht, Skinny Jeans. Es muss weitergehen. Aber meine Tischgenossin sieht das anders, ihre Augen funkeln immer noch aufgeregt. „Das muss so schlimm sein. Diesen Typen wieder begegnen zu müssen. Deren Schuld zu beweisen, obwohl die lügen werden, Möglichkeiten finden sich herauszuwinden. So läuft das doch immer. Wenn man nur einem Täter gegenüberstehen muss, einen überleben muss? Aber gleich 15?“ Das Glitzern in ihren Augen verstärkt sich, ich frage: „Kennst du jemanden, der sowas schon erlebt hat?“ Bereue die Frage gleich wieder. Aber sie nickt, umreißt das Erlebte, in abgehackten Worten, es bleiben Fragmente, abgerissene Schnipsel. Es gibt keine Form, in die ich ihre Geschichte mit Worten gießen könnte, und deshalb schweigt sie jetzt. Einzig ihre Lippe zittert und ihre Augen starren in ihren Milchkaffee, als wolle sie darin verschwinden. Meine Tischgenossin nimmt einen letzten Schluck Kaffee, steht auf, in ihrem Rucksack klappert ihr Pfefferspray, sie erzählt stolz: „Ein Taschenmesser habe ich auch immer dabei.“ Ich erinnere mich in diesem Moment an einen Mädels-Treff vor einem Jahr, da waren wir Pizza essen. Da erzählte auch eine, sie hätte immer ein Pfefferspray in ihrer Handtasche, weil sie erst spät von der Arbeit nach Hause kommt, weil sie auf dem Weg vom Auto bis zur Haustür Angst hatte. Die anderen besaßen es nicht, noch nicht, aber jede hatte eine andere Methode, um sich zu schützen, alle machten sich wahnsinnig viele Gedanken, um Sicherheit. Ich hatte sie damals gefragt, ob es im Ernstfall nicht zu lange dauern würde. Das Pfefferspray herauszukramen. Aber sobald sie aus dem Auto steigt, hat sie es schon in ihrem Ärmel positioniert, bereit, den feurigen Inhalt einzusetzen. Wir fanden das stark, waren gleichzeitig aber irgendwie betreten. Jetzt sieht mir meine Tischgenossin fest in die Augen. So wie ihre Augen leuchten, wirkt sie fast heroisch, amazonisch. Und ich frage mich in diesem Augenblick, ob weibliche Gewalt immer dazu verdammt ist, eine Antwort zu sein. Eine Reaktion auf Trauma. Oder ob das auch schon wieder nur eine Brille ist, durch die man auf die Welt schaut. Warum man überhaupt kämpferische Frauen automatisch als Amazonen beschreibt, diesen Mischwesen, die nur dazu erfunden wurden, jegliche Form von Emanzipation zu verwerfen. Sie ärgert sich: „Nur in Clubs darf ich nichts dabeihaben. Einmal wurde ich rausgeschmissen und sie haben sogar die Polizei gerufen. Ich wurde zum Glück bloß abgemahnt. Aber verstanden haben sie mich nicht. Verletzen wollte ich ja keinen. Aber –

„Nie wieder verletzt werden.“, wirft eine von mir bis zu diesem Augenblick nicht wahrgenommene Frau am Nebentisch ein. Sie ist älter, so um die dreißig, ihre Gesichtszüge entgleiten ihr, als wir sie anschauen. Ihre Zeitung liegt geknickt auf ihrem Schoß, ein Taschentuch, eine Quittung oder ein Bonbonpapier zerknüllt in ihrer zusammengepressten Faust. Sie hat unser Gespräch wohl die ganze Zeit mitgehört, mitgefühlt. Die beiden Frauen schauen sich ein paar Sekunden erstaunt in die Augen, bis die Ältere sich hastig wieder der Rheinischen Post zuwendet, die sie wie ein Schutzschild vor ihr Gesicht ausbreitet. Das junge Mädchen verabschiedet sich von mir, sie lächelt, mutmachend. Ein kurzes Nicken zur älteren Frau, fast schon kameradschaftlich, und sie verschwindet wieder raus in die Stadt. Die großen, klobigen Boots an ihren Füßen lassen ihre Schritte steif und männlich wirken, obwohl sie unter ihrem großen Kapuzenpullover fast verschwindet, viel zarter wirkt, als sie vermutlich ist. Aber ihre Augen leuchten noch. Oder wieder.

Die Frau am Nebentisch ist mittlerweile hinter ihrer Zeitung verschwunden, das Rascheln der Blätter das Einzige, was ihre Anwesenheit verrät. Ich gönne ihr die Unsichtbarkeit, entscheide mich dazu, das Café ebenfalls zu verlassen. Und während ich durch den Raum gehe, schaue ich zurück, lasse meinen Blick über die Tische gleiten, denke „jede dritte –“, schon werde ich wieder eingesogen von der Stadt.

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