2021/09 – Schatten

Die Sonne wirft deinen Körper neben mich auf den Asphalt, verschluckt hinter jeder Hausfassade, verschlingst du meinen Schatten, wächst zur dreifachen Größe schon heran, fast so, als würde sie meine Gedanken ausstrahlen.


Bilder

– 1 –

Wahllos fielen sie wohl in ihren Koffer. Das hochgeschlossene Blumenkleid aus der letzten Saison. Ein roter Lippenstift, der sich vermutlich schon seit Jahren abtrug. Dokumente, Kleidung, eine verblasste Fotografie, die man im Dunkeln des Zimmers kaum erkennen kann. Ihr Blick verhaftet sich auf ihr, während ihre Hände mitten in der Bewegung stocken, ihren Koffer zuzuschmeißen. Nur eine flackernde Kerze auf der Nachtkommode erlaubt den Blick auf die schmale Gestalt dieser Frau, deren Körper wie ein Geist an den Wänden zuckt. Ist sie sentimental? Wird sie zögern? Wir wissen es nicht, zumindest in diesem Moment noch nicht. Doch auf ihrem Nacken, durch ihre hochgesteckten Haare entblößt, zeigt sich ein ängstliches Frösteln.

– 2 –

Knarzen. Eine alte Holztreppe biegt sich ächzend unter dem schweren Tritt eines eleganten Herrenschuhs. Die Lederschuhe gehören zu einem Paar langer Beine, bekleidet von einer gerade geschnittenen karierten Stoffhose. Ein grauer Mantel aus warmen Tweed schwingt durch die Luft, eilig. Den Hut tief in die Stirn gezogen, erkennen wir bloß ein paar blasse schmale Lippen und ein scharfes Funkeln in den schwarzen Augen, die das schwache Mondlicht einfangen. Er wird bald in der Düsternis der Diele verschwinden.

– 3 –

Die große Uhr des Bahnhofes schlägt 7. Dampf umhüllt den Steg, an dem ein Durcheinander von winkenden, rennenden, in ein Taschentuch schnauzenden und sich nie wieder umdrehenden Menschen herrscht. Es werden Koffer von Dienstboten transportiert und letzte Händedrücke verteilt. In dieser Masse steht sie und drückt ihren Koffer enger an sich. Ihr Blick reicht über die Bildergrenze weit hinaus, gedankenversunken? Eine Locke hat sich die Freiheit aus ihrem streng nach hinten gebundenem Dutt erkämpft und kräuselt sich entlang ihrer eingefallenen Wangen. Wie lange noch?

– 4 –

Unser Blick fällt zurück auf den Bahnhof, der die winkenden Menschen langsam hinter sich lässt. In der Spieglung des Fensters die Gesichtszüge der den Tränen nahenden Frau, die mittlerweile ihre widerspenstige Locke zurück hinters Ohr gestrichen hat. Ihre Hände verschränken sich im Schoß und ihre Beine sind fest aneinandergepresst, als fürchtete sie sich aus ihrem Sitz gestoßen zu werden. Auf dem Bahnsteig erkennen wir den Herren von der Treppe, seinen Hut in der einen Hand und die andere Hand nach vorne ausgetreckt, ein Griff ins Leere. Ein anderer Mann hinter ihm drückt seine Zigarette auf dem Boden aus und schaut ihm stirnrunzelnd hinterher. Wieder fliegt sein Mantel im Wind und schlägt im Laufen vermutlich gegen den roten Lack der Bahn. Seine schmalen Lippen bilden ein O, doch wir hören nicht, was er ruft. Er ist zu spät oder gerade rechtzeitig.

– 5 –

Sie sitzt an einem schmalen Holztisch, den Kopf in ihre Hände gestützt. Ein grünliches Licht fällt durch das Küchenfenster und lässt tiefe Schatten unter ihre Augen fallen. Zwischen ihren Händen, die kraftlos auf dem Tisch aufliegen, eine zerknitterte Fotografie. Ist es die Fotografie aus dem ersten Bild? Wir sehen ein kleines Mädchen mit lang gelockten Haaren und einem weißen Kleid, das ihr bis zu den Fußknöcheln reicht. Sie hält einen kleinen Blumenstrauß in ihren Händen und während sie lächelt, entstehen auf ihren Wangen kleine Grübchen. Die rechte Hand hebt sie, als wolle sie jemanden zuwinken. Ein Abschied, auf immer?


Frau verpasst Bus

Regentropfen auf deinen Lippen
Gelaufen, von Block zu Block
Tropfen sie von deinem Kinn
Wollte nur noch einmal atmen
Den dichten Herbstnebel
Nur noch einmal umgedreht
Gefolgt von einem Schatten

Bus verpasst?

Jetzt muss ich rennen
Doch ich bleibe stehen
Bei dir. 

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