300 Seiten, 190.000 Wörter, 15.000 Zeilen,
ich habe dich gelesen, dich gehört, dich gesehen.
Deine Seiten aufgeschlagen. Mit den Fingern das dünne Papier berührt. Deine Worte auf der Zunge geschmeckt. Verstanden.
Ich dachte, ich hätte dich verstanden.
Jedes Wort. Jeden Satz. Jede Seite.
Doch dann schloss ich das Buch, ich genoss noch den Nachklang deiner Worte, sie rauschten flüsternd und beruhigend in meinen Ohren,
als wäre der leinende Einband eine Muschel, die abschirmt von allem anderen. Nur du. Und die Seiten.
Aber –
Ich wusste plötzlich gar nichts mehr. Alles,
jeden kleinsten Gedanken, jede Beobachtung, jedes Adjektiv, ich habe alles gelesen.
Und doch – so scheint es – habe ich dich nie verstanden.
Ich schlug die Seiten heftig zu.
Ein letzter Schwall von Wortgemisch hämmerte durch meinen Kopf, ich scheuchte sie fluchend zurück auf die staubigen Seiten.
Und ich begriff, dass ich eben nichts begriff, es war Täuschung. Alles, was Innen schien, war jetzt Außen.
Nur Bruchstücke und deine Maske. Du hast dich verhüllt. Vor mir. Einen durchsichtigen Schleier über deine Worte gelegt,
durchsichtig, aber deckend.
Sie ließen mich glauben, ich kenne dich. Dich. Den Maskierten.
300 Seiten, 190.000 Wörter, 15.000 Zeilen,
sechs Gedankenstriche (–),
ich habe dich gelesen, dich gehört, dich gesehen.
Deine Seiten aufgeschlagen. Mit den Fingern das dünne Papier berührt. Deine Worte auf der Zunge geschmeckt. Verstanden.
Ich dachte, ich hätte dich verstanden.
Jedes Wort. Jeden Satz. Jede Seite.
Sechs Gedankenstriche (–),
zu finden auf Seite 5, 87, 104, 153, 180, 203.
Sie kratzten in meinem Hals, während ich stockte, spürte, dass du überspielst
und ich fieberhaft überlegte, was du verschweigst. Was ist dir widerfahren? Was hast du gedacht? Was war so unaussprechlich, dass du,
der, der alles formen kann, auch in meinem Kopf, nicht beschreiben konnte?
Es waren die stummen Striche, sie waren schuld. Sie ließen meinen Kopf zerbrechen, sie ließen nur Scherben zurück.
Ich habe dich auswendig gelernt. Unbewusst.
Den Klang deiner Worte nachgeahmt. Und gefühlt.
Gefühlt von Innen, dort, wo es wehtut.
Wir sind uns begegnet,
auf einem Maskenball.
Ich ließ meine Deckung fallen. All das Überflüssige,
allen Narzissmus, alle Scham.
Nach und nach hast du Stoff für Stoff von meinem Arm abgestreift. Gestreift bis meine Haut ganz nackt war.
Du wolltest mich empfindlich, damit ich alle Worte empfange. War das nicht genug?
300 Seiten, 190.000 Wörter, 15.000 Zeilen,
sechs Gedankenstriche (–),
drei Auslassungspunkte (…),
ich habe dich gelesen, dich gehört, dich gesehen.
Deine Seiten aufgeschlagen. Mit den Fingern das dünne Papier berührt. Deine Worte auf der Zunge geschmeckt. Verstanden.
Ich dachte, ich hätte dich verstanden. Jedes Wort. Jeden Satz. Jede Seite.
Drei Auslassungspunkte (…),
zu finden auf Seite 10, 127, 300. Sie schmerzten besonders,
weil sie andeuteten. Zwangen zum Einhalten.
Und doch ratlos zurückließen.
Das Ende war besonders schlimm. Mir steckte ein Kloß im Hals, zusammengeknüllte Seiten, konnte sie nicht schlucken.
Vertrauen. Du nahmst die Maske ab. Ich konnte dich jetzt besser verstehen. Mit den Augen. Seelensprache.
Doch wusste ich nicht, dass das nur die oberste Schicht war.
Hätte ich kräftig über deine Haut gestreift,
einmal, zweimal, hundertmal –
wie viele Masken hätten den Boden geziert?
300 Seiten, 190.000 Wörter, 15.000 Zeilen, sechs Gedankenstriche (–),
drei Auslassungspunkte (…),
eine leere Zeile (–––––––––––––),
ich habe dich gelesen, dich gehört, dich gesehen.
Deine Seiten aufgeschlagen. Mit den Fingern das dünne Papier berührt. Deine Worte auf der Zunge geschmeckt. Verstanden.
Ich dachte, ich hätte dich verstanden.
Jedes Wort. Jeden Satz. Jede Seite.
Eine leere Zeile (–––––––––––––),
zu finden auf Seite 95.
Ein offenes, klaffendes Loch, durch das Buchstabe für Buchstabe floss. Und ich füllte es wieder auf, damit das Buch nicht verblutet.
Hattest du nicht Angst um dein Leben? Oder ging es um meins?
Mit Tränen in den Augen spürte ich das Verschlingen, wie die Seiten mich aßen, ich trank das Tintenblut, um nicht zu verdursten,
musste Wörter aus mir streichen.
Mich opfern, dich opfern,
Tauschpreis.
Je mehr ich dich wollte, desto mehr habe ich gelitten. Um jedes Wort,
das ich befreien wollte,
um jeden Satz,
den ich entschlüsseln wollte,
um jede verfluchte Seite,
jede Interpretation.
300 Seiten, 190.000 Wörter, 15.000 Zeilen, sechs Gedankenstriche (–),
drei Auslassungspunkte (…),
eine leere Zeile (–––––––––––––),
ich habe dich gelesen, dich gehört, dich gesehen.
Deine Seiten aufgeschlagen. Mit den Fingern das dünne Papier berührt. Deine Worte auf der Zunge geschmeckt. Verstanden.
Ich dachte, ich hätte dich verstanden.
Jedes Wort. Jeden Satz. Jede Seite.
Die Tinte fließt aus meinen Augen.
Sie tritt aus meiner Haut, die zittert.
Sie quillt aus meinem Herz, das blutet.
Du hast die Seiten geschrieben.
Geschrieben aus meinem
Herzblut.
Stille Schreie. Ich trete an den Spiegel,
Haut überschrieben
mit Zeilen.
Eine leere Zeile, die sich endlich füllt.
Die Zeichen sind du, doch das Bild bin ich. Ich verstehe Mich.
Aufgeschlagene Seele.